Bad Driburg. Unser Kleinstädtchen kann nicht gemeint gewesen sein. Bei uns ist noch alles in Ordnung, wird der arbeitende Mensch nicht zur Ware, geht seine Menschenwürde nicht verloren.
Wir gehen bürgerlich unserer Arbeit nach. Wir sind nicht Arbeiter in einem Billiglohnland. Wir arbeiten, um zu leben, und leben nicht, um zu arbeiten. Wir kennen keine Gig-Ökonomie, Auswüchse eines Work-Flow, keine Crowdworker, kein Outsourcing, keine Leiharbeiter am Fließband, Vereinzelung oder Entsolidarisierung. Wir kennen keine Kurierradler, die bei 36 Grad im Schatten mit der Stechuhr am Arm einem Algorithmus nachjagen, nicht stürzen oder krank werden dürfen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren und ihre Existenz nicht zu gefährden. Bei uns muss niemand mit einer Windel am Arbeitsplatz sitzen, um einen Toilettengang zu sparen. Wir haben keine kurzzeitbefristeten Akademiker, die mit Hartz IV aufstocken, IT-Dienstleister mit Tagesverträgen, prekäre Freelancer nach dem Motto
„Heute nützlich, morgen Müll“
Zumindest hört man in Bad Driburg nicht davon.
Ein Schreckensszenario von der modernen Arbeitswelt malt der Film „Der marktgerechte Mensch“ von Leslie Franke und Herdolor Lorenz. Er wird als „Film von unten“ angekündigt und hat seit seinem Erscheinen am 16. Januar bereits deutschlandweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Die Filmemacher waren persönlich anwesend, auf Einladung der VHS und ihrer Leiterin Janina Brigant-Loke, Elina Wirth vom Bad Driburger Kino und der Gewerkschaft ver.di OWL.
Moderator der anschließenden Diskussion war Sebastian Becker aus Bad Hermannsborn, der eine Initiative Neues Lernen gründete und sich selbst als Designthinker und Innovationsdozent bezeichnet.
Die Inhalte des Films sind realistisch und seit Langem bekannt. Noch vor 20 Jahren hatten in Deutschland knapp zwei Drittel der Beschäftigten eine Vollzeitstelle mit Sozialversicherungspflicht. Heute sind es noch 38%. Anstatt von Arbeitsstellen ist immer mehr von Jobs die Rede. Immer mehr Arbeitnehmer sind auf sich selbst gestellt, immer mehr werden ausgebeutet und beuten ihre körperliche und seelische Gesundheit aus. Soziale Bindungen werden aufgegeben. Die soziale Marktwirtschaft und die Solidarsysteme werden mehr und mehr ausgehebelt. Unternehmen weichen ihrer Verantwortung für ihre Beschäftigten in unserem Land in Billiglohnländer aus.
Als erschreckendes Beispiel erscheint nun nach Bangladesh Äthiopien, wo riesige Industriekomplexe entstehen. Wer nicht mitspielt, muss gehen, fällt aus dem Spiel, aus dem sozialen Netz.
„Warum hab ich nichts gesagt? Ich habe mich nicht getraut!“, begründet eine Frau vor dem Hintergrund eines Containerterminals ihren Versuch, allen Anforderungen ihres Arbeitgebers gerecht zu werden, bis zum Zusammenbruch. Der Markt bietet Lösungen an, etwa eine Freeletics-App.
Ein Buch mit dem Titel „Heirate dich selbst“ fordert zur „radikalen Selbstliebe“ auf. Dem an die Grenze der Belastbarkeit geratenen Menschen wird suggeriert, er selbst könne an seiner Situation etwas ändern, indem er sich selbst optimiert.
Der Film bietet Auswege an, selbstverständlich verfolgen die Filmemacher als Aktivisten konkrete Ziele.
Sie stellen alternative Betriebe vor, die nach dem Prinzip des Gemeinwohls wirtschaften, etwa eine bayrische Sparda-Bank, die sich dem Artikel 151 der bayrischen Verfassung verpflichtet hat: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“ Unternehmen, die regional und nachhaltig investieren, erhalten günstigere Kredite. Beschäftigte von Lieferdiensten gründen einen Betriebsrat, unterstützen sich gegenseitig solidarisch und vernetzen sich. Kundgebungen finden statt vor den bekannten Firmen mit überwiegend prekär Beschäftigten.
Auf internationaler Ebene setzen sich zum Beispiel die Initiativen Oxfam und Cleanclothes für eine sozialere Arbeitswelt ein.
Die etwa 60 Zuschauer im Bad Driburger Kinosaal griffen in der Diskussion einzelne Aspekte des Films auf und zeigten, dass die Botschaft angekommen war, objektiv und subjektiv.
Ein menschengerechter Markt muss möglich sein.
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Weitere Vorführungen ohne die Filmemacher gibt es am Mittwoch, dem 5. Februar, und am
Mittwoch, dem 22. Februar jeweils um 18 Uhr.
Titelbild: v.l. Janina Brigant-Loke, Sebastian Becker, Elena Wirh,Leslie Franke und Herdolor Lorenz