Verständnis für die anderen!

Eine Betrachtung von Elmar Hinz

Bad Driburg. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!”. Könnte man besser als Bertolt Brecht die Situation beschreiben, in der sich viele Gastronomen nach fast einem viertel Jahr Lockdown befinden? Wer seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, der hat persönlich dringendere Sorgen, als sich über die Situation in Seniorenheimen Gedanken zu machen. Der Lockdown bedroht seine Existenz. Was ist natürlicher, als die staatlichen Maßnamen zu behindern?

Andere Gastronomen sind darüber entsetzt. Sie wissen, wenn die Pandemie nicht entschlossen bekämpft wird, dann wird der Lockdown umso länger dauern. Wer ohne Maske mit Spinnern auf Demonstrationen rennt, der verlängert den Lockdown nur.

Im Grunde geht es der ganzen Gesellschaft so. Allzu menschliche direkte Reaktion und vernunftbegabtes Handeln liegen miteinander im Clinch. Die einen schlagen sich auf diese, die anderen auf jene Seite. China hat mit massiven staatlichen Zwangsmaßnahmen ein Handeln im Sinne der Vernunft durchgesetzt. Ausgerechnet hier konnten sich die Menschen bald frei von der Pandemie fühlen. Doch das ging nicht ohne totale Kontrolle und systematische Bespitzelung in jeder Nachbarschaft, ein Weg, der sich für einen Rechtsstaat verbietet. Das Virus fragt nicht nach Moral.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Bertolt Brecht

Doch wenn der Rechtsstaat im Vergleich zu China wenig Erfolge aufweisen kann, dann bekommt er ein Problem. Auf der einen Seite geht der totalitäre Ansatz als Sieger aus diesem Wettbewerb hervor. Auf der anderen Seite halten die Leugner der Pandemie dem Rechtsstaat seine eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien entgegen. Sie verspotten ihn damit, dass sie ihre Freiheit zu Geschwurbel missbrauchen.

Querdenken nennen sie diese Protestform im Gegensatz zum logischen Geradeaus-Denken. Sie sind die Punks der Vernunft. Durch Verantwortungslosigkeit, wo eigenverantwortliches Handeln das Gebot der Stunde wäre, provozieren sie immer mehr staatliche Kontrolle, denn sie fordern zum Verbreiten des Virus auf, ob als Maskengegner, ob als Impfgegner, ob als Leugner, ob als Verschwörungstheoretiker.

Es ist kein bewusster Plan. Es ist das Ergebnis des Konfliktes zwischen Vernunft und Bedürfnissen. Sie verhalten sich wie Halbstarke, die gegen die Eltern aufbegehren, während sie sich auf diese verlassen und selbst keine Verantwortung übernehmen wollen. Im Unterschied zu Halbstarken zielen sie jedoch nicht darauf ab, erwachsen zu werden. Obwohl sie die Demokratie gefährden, können sie sich vieler Sympathien gewiss sein, denn sie sind diejenigen, die aus Emotion handeln, nicht aus Gründen der Vernunft.

Auf der anderen Seite stehen die Vernünftigen, die Verantwortlichen. Sie gewinnen keinen Spaß durch anarchisches Protestieren, sie gewinnen keine Sympathien durch emotionales Handeln. Sie sind die Spaßbremsen, die Verzicht einfordern. Von Tolstoi bis Nietzsche werden ihre Motive hinterfragt. Doch sie sind es, die den Laden am Laufen halten, die die Katastrophe verhindern.

Nur eine Unterbrechung verhindert einen Flächenbrand

Seit fast einem Vierteljahr sind verschiedene Branchen nun im Lockdown und es ist noch kein Ende in Sicht. Die Pleitewelle ist vorhersehbar, auch wenn das für die überlebenden Betriebe neue Chancen bedeuten wird. Der Staat kann nicht jeden Betrieb retten. Seit fast einem Jahr zwingt das Virus Menschen, auf Feiern zu verzichten. Die Jugend verliert ein Jahr, sich zu verlieben, den richtigen Partner für’s Leben zu finden. Auch die Alten im Seniorenheim fragen sich, was es ihnen bringt zu leben, wenn sie zugleich vom Leben ausgeschlossen werden. Depressiv veranlagte Menschen fallen immer tiefer ins Loch.

Eine Gesellschaft kann nicht ewig im Lockdown leben, auch wenn noch so viele Gründe dafür sprechen. Die Stimmung kippt. In den Ländern, die versucht haben, auf Maßnahmen zu verzichten, standen schließlich die Kühltransporter mit Särgen vor den Krankenhäusern. Die Stimmung kippte wieder und es wurden hektisch Maßnahmen ergriffen. Doch je länger der Lockdown dauert, desto mehr steigt die Bereitschaft, derlei Konsequenzen in Kauf zu nehmen, damit das eigene Leben weiter geht. Die Politik hat nicht mehr viel Zeit. Wir sind an dem Punkt, wo ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.

Diejenigen, denen der Lockdown zu lange dauert, sprechen das jedoch nicht so aus, denn sie scheuen die Konsequenz eines harten Lockdowns, der die Alternative wäre. Lasst sie alle ersticken, wollen auch sie dann nicht so direkt fordern.

Stattdessen flüchten sie sich in erfundene Behauptungen. Einmal gibt es das Virus nicht. Einmal kommt es aus verschiedenen Laboren, einmal von Außerirdischen. Da werden große Verschwörungen erfunden, von Regierungen, die sich sonst spinnefeind sind. Einmal hat die Impfung mehr Risiko als die Krankheit. Einmal sind die Impfampullen voller Chips. Je größer der Unsinn, desto größer das Gejohle. Sie glauben alles auf einmal.

Leugner zerstören ihre sozialen Netze. Sie verlieren ihre Freunde. Sie grenzen sich in der Familie aus. Sie setzen ihre berufliche Karriere wegen Unzurechnungsfähigkeit auf’s Spiel. Ihre neuen Bekannten sind Spinner, sind Menschen, die sie belügen und manipulieren, die ihnen das Geld aus der Tasche ziehen. Auch wenn ihr Handeln unsinnig ist, haben sie ihre ganz persönlichen Gründe dazu. Sie finden keine bessere Lösung. Populisten bieten ihnen die einfache Lösung einer Märchenwelt an. Sie greifen zu.

Warum der Onkel, die Freundin, die Schwester plötzlich den Verstand verliert, das werden die meisten nicht begreifen. Es ist absurd. Ein bis dahin intelligenter Mensch ist plötzlich für keine Argumente mehr zugänglich. Aber hat er nicht früher schon an Sternzeichen, Homöopathie und anderen Hokuspokus geglaubt? So vernünftig, wie es scheint, sind die wenigsten Menschen. Unter normalen Umständen fällt das nur weniger auf.

Die Pandemie wird vorbeigehen. Der Onkel wird noch immer der Onkel, die Schwester die Schwester sein. Gut wäre es, wenn die Freundin dann noch immer die Freundin ist.

Die Spaltung der Gesellschaft kann nur von der Seite der Vernünftigen verhindert werden, weil die anderen dazu nicht vernünftig genug sind. Auch das müssen die Vernünftigen jetzt noch leisten. Darum seinen Sie geduldig und entschieden mit denen, die schwurbleln und leugnen. Treten Sie dem Unsinn entschlossen entgegen, doch respektieren Sie den Menschen. Schaffen Sie den Spagat, die Motivation des Menschen zu verstehen, ohne sein Handeln gut zu heißen. So lange sie das schaffen, besteht Hoffnung, die Spaltung zu verhindern.

Zusammenhalten