Elisabeth Affani
Bad Driburg. „Du Spast!“ lautete einmal das Schimpfwort eines Schülers, der seinen Zorn auf einen anderen Schüler abreagieren wollte. Er handelte sich einen Vortrag seiner Klassenlehrerin ein, die ihm vor Augen führte, wie schnell jede und jeder von uns etwa durch einen Unfall zu einem spastisch gelähmten Menschen werden kann. Niemand möchte dann beschimpft werden.
Der Sendung „ZDF Magazin Royale“ und Jan Böhmermann zufolge leben rund 13 Millionen Menschen in unserem Staat mit einer Behinderung. Die wenigsten kommen mit einer Behinderung zur Welt. Die meisten werden im Laufe ihres Lebens zu Behinderten, durch Unfälle oder Erkrankungen wie Endometriose, Krebs, MECFS, Parkinson, Epilepsie, Migräne, Rheuma, Asthma und Depression.
In Böhmermanns Satire-Sendung am letzten Freitag konnten Zuhörende erstmals Erstaunliches über den Umgang mit Behinderten in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt erfahren. „Jeder Mensch soll teilhaben können an allem.“ Politiker aller Parteien äußern sich vor allem in Wahlkampfzeiten behindertenfreundlich. Die EU-Behindertenrechtskonvention ist gesetzliche Verpflichtung. Behinderte sind auch Wähler.
Behinderte möchten wie jede andere Bürgerin und jeder andere Bürger einer geregelten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen. Unternehmen sind verpflichtet, für sie geeignete Arbeitsstellen zur Verfügung zu stellen.
ABER …
Exklusion ist eher die Regel. Nur 0,35 Prozent der in Werkstätten Beschäftigten gelingt es, auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln.
In der Sendung werden Werkstätten als billige Produktionsstätten bezeichnet, die Millionen Euros umsetzen und „für fette Konzerne Aufträge erfüllen“, etwa für Porsche. Der gesetzliche Mindestlohn gilt nicht für Werkstätten, also auch nicht für die Bad Driburger INTEG. Sogar das Bundessozialministerium sieht darin einen Verstoß gegen das Grundgesetz, EU-Recht und die Behindertenrechtskonvention.
Kritik gibt es auch an den Unternehmen, die sich durch eine Ausgleichsabgabe von der Pflicht befreien, behinderte Menschen einzustellen. Nur 39 Prozent der Firmen halten sich an das Gesetz.
Der Clou: Die Ausgleichsabgabe kann als Betriebsausgabe von der Steuer abgesetzt werden.
Das ZDF selbst gehört zu den 61 Prozent, die sich nicht an Recht und Gesetz halten. Jan Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ beschäftigt keinen Schwerbehinderten und zahlte dafür im letzten Jahr 13.680 Euro als Strafe.
Im öffentlichen Sektor, dem Staat, findet man wie in Privatunternehmen Verstöße. Rheinland-Pfalz etwa hätte 2.063 Arbeitsstellen mit Behinderten besetzen müssen. Das Land hätte 2023 fast 288.000 Euro Strafe zahlen müssen. Ein Trick verhinderte die Strafe. Firmen und Behörden, die genügend Aufträge an Werkstätten vergeben, müssen überhaupt keine Ausgleichsabgabe zahlen. „Der Staat dribbelt sein eigenes System aus“, sagt Böhmermann.
Am Ende nimmt er sich die Wahllokale vor. Im Jahr 2017 waren 71 Prozent der Wahllokale „barrierefrei“ ohne festgelegte Definition, was man denn darunter verstehen muss. Barrierefreie Parkplätze, damit auch Rollstuhlfahrer mit dem Pkw barrierefrei zur Wahlurne gelangen, taktile Leitsysteme für Sehgeschädigte, breite Flure, ein Behinderten-WC, am besten mit Personenlift, ein Warnsystem für Hörgeschädigte und DolmetscherInnen für Gebärdensprache werden als Kennzeichen wahrer Barrierefreiheit genannt.
Einen Anspruch auf ein barrierefreies Wahllokal gibt es nicht, sagt die Bundeswahlleitung.
Nicht einmal Briefwahlunterlagen sind wirklich barrierefrei. „So gut es geht“ ist laut Böhmermann der Anspruch Deutschlands 2024 und 2025.
Welche Barrieren behinderten Menschen in Bad Driburg das Leben auch beim Wählen schwermachen, erklärt sicher gern die Selbsthilfegruppe Pro barrierefrei Bad Driburg e.V.
Titelbild: Jan Böhmermann Bild: ZDF
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