Rede von Simon Tewes
Am gestrigen Sonntag, 13. November 2022 fand erneut eine Gedenkversammlung am Ehrendenkmal in der Kapellenstraße statt. An dieser Stelle veröffentlichen wir die Rede des Schulleiters der Gesamtschule Bad Driburg, Simon Tewes.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Bad Driburgerinnen und Bad Driburger,
erneut kommen wir am heutigen Volkstrauertag hier am Ehrenmal als Gemeinschaft zusammen, um der Opfer von Gewaltherrschaft und der Kriegstoten zu gedenken – seien sie militärisch oder zivil.
Der Volkstrauertag, ein so genannter „stiller Tag“ wird seit 1952 – also seit etwa 70 Jahren – im gesamten Bundesgebiet begangen und hat seine Wurzeln sogar noch weit davor im Jahr 1925 als es um das Gedenken der Toten des Ersten Weltkrieges ging. Diese weitreichende Tradition macht die außergewöhnliche Bedeutung des Tages offensichtlich.
Warum kommen wir Deutschen an diesem Tag auch heute, so viele Jahre nach der Einführung, noch aus dem gerade genannten Grund – Gedenken der Opfer der Gewaltherrschaft und der Kriegstoten – zusammen? Warum sehen wir uns heute zu dieser Zeit hier in Bad Driburg am Ehrenmal?
Die Antwort auf diese Fragen ragt in die Geschichte unseres Landes – aber auch in die Gegenwart und Zukunft.
Wir Deutschen – auch die Bad Driburgerinnen und Bad Driburger – haben in der Geschichte ihre bitteren Erfahrungen mit Kriegen gemacht.
Ich möchte hier nun keine umfassende Geschichtsstunde über Krieg und Gewaltherrschaft halten, auch wenn der Verdacht bei einem Schulleiter mit Geschichte als Studienfach naheliegen würde und die Versuchung natürlich meinerseits eindeutig besteht.
Lediglich möchte ich wenige Schlaglichter auf unsere jüngere deutsche Geschichte werfen, die die Notwendigkeit des fortdauernden Erinnerns und Mahnens offensichtlich machen:
Heute vor 105 Jahren – 1917:
Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg:
Bis zum Ende des Jahres 1916 tobte die verlustreiche Schlacht an der Somme. Der Erste Weltkrieg hatte 1917 seinen Zenit überschritten und die Armee des Deutschen Reiches geriet in die Defensive, nicht zuletzt durch den Kriegseintritt der USA. An der so genannten „Heimatfront“ erlebte die Zivilbevölkerung im „Steckrübenwinter“ 1916/1917 deutliche Versorgungsengpässe und eine gravierende Hungerkrise mit vielen Opfern.
Das Grauen des ersten industrialisierten Krieges erreichte eine neue Dimension, das sich noch bis 1918 fortsetzte.
Heute vor 80 Jahren – 1942:
Das Deutsche Reich begann am 22. Juni 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion. 1942 tobte die Schlacht um Charkiw, eine der größten Schlachten des deutsch-sowjetischen Krieges. Heute liegt die Stadt in der Ukraine.
Ferner ist uns allen die Schlacht um Stalingrad ein Begriff, die Ende 1942 erbittert tobte und einen Wendepunkt im Kriegsgeschehen darstellte.
In diesem als Vernichtungskrieg geführten Teil des Zweiten Weltkrieges starben zwischen 24 und 40 Millionen Menschen, ganz genau lässt es sich nicht beziffern.
An und hinter der Front standen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der Tagesordnung, die wir uns heute kaum vorstellen können.
Im Frühjahr des Jahres 1942 wurde spätestens mit der Wannseekonferenz die sog. „Endlösung“ der Judenfrage besiegelt und vorbereitet.
Das meint nichts anderes als die massenhafte systematische industrielle Ermordung jüdischer Mitbürger, die bis dahin bereits entrechtet und verfolgt wurden – und führte sie bis in die Gaskammern von Auschwitz, das als Symbol für die Massenvernichtung der Juden und weiterer Gruppierungen gilt. Auch hier waren Bügerinnen aus Bad Driburg unter den Opfern.
Vielleicht schrieb Paul Celan in seinem Gedicht „Die Todesfuge“ nach dem Krieg aus gutem Grund dazu:
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.
Das verbrecherische nationalsozialistische Regime fand 1945 sein verdientes Ende, zig millionenfache Opfer im militärischen und zivilen Bereich und weltweite „verbrannte Erde“ waren die Folgen – und natürlich bleibt – um ein wenig vorzugreifen – eine ganz besondere Verantwortung für die Nachgeborenen, dass derartige Gräuel nie wieder von deutschem Boden oder anderswo ausgehen sollten.
Aber verlassen wir nun unsere gedankliche Reise in die Vergangenheit, die wenigen Schlaglichter sollten genügen, und richten unseren Blick in die Gegenwart und in die Zukunft.
In der Gegenwart ist für uns in diesem Jahr – wenn man als BürgerIn Europas an Vertreibung, Opfer und Kriegstote denkt, ein Ereignis ganz besonders präsent:
Wir hatten es alle nicht für möglich gehalten, aber seit dem 24. Februar ist der Krieg zurück in Europa. Das allseits bekannte und in der Vergangenheit jahrzehntelang erfolgreich artikulierte Credo: „Nie wieder Krieg!“, es ist leider unerfüllt geblieben und verhallt!
Russland hat seinen unabhängigen Nachbarstaat, die Ukraine, heimtückisch überfallen – seitdem ist alles anders, auch in Bad Driburg. Eine lange, einmalige Friedensperiode in Europa fand ihr jähes Ende.
Der Krieg hat zu tausendfachen Opfern geführt, das Sterben, es geht dort täglich weiter. Viele Landesteile, Dörfer und Städte sind durch Kriegszerstörungen unbewohnbar geworden.
Ein Drittel der Bevölkerung der Ukraine ist infolgedessen auf der Flucht, man kann von etwa 14 Millionen Vertriebenen ausgehen. Diese gigantische Anzahl an Menschen hat alles zurückgelassen, ihr zu Hause, ihre Familie, ihre gesamte Existenz.
Etwa eine Millionen EinwohnerInnen der Ukraine sind bisher vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet und leben nun mitten unter uns, etliche auch in Bad Driburg. In der Regel sind es die Alten sowie Frauen und Kinder, deren vorläufige Heimat nun bei uns liegt. An unserer Schule beschulen wir beispielsweise etwa 30 Kinder aus der Ukraine.
Unsere Solidarität sollte ihnen sicher sein, aus Gründen der Menschlichkeit und Nächstenliebe kann es hier kein Wenn und Aber geben. Das gilt ebenso für die Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Wie weit wir hier gehen sollten, darüber lässt sich selbstverständlich ein offener gesellschaftlicher Diskurs führen.
Offensichtlich und für jeden erkenntlich ist:
Auch unser Land verändert sich durch den Krieg vor unserer Haustür – und das nicht nur durch die Aufnahme Geflüchteter:
Energie ist ein Spielball im Kalkül der Kriegsführung geworden. Sie ist im Verlauf des Krieges knapper und somit kostbarer für Privathaushalte, Betriebe und Industrie geworden, was auch von uns Opfer verlangt und erhebliche Folgen nach sich zieht.
Doch auch diese Entbehrungen sollten wir im solidarischen Miteinander tragen.
Man stelle sich nur einmal vor, es wären wir, die angegriffen worden wären – würden wir nicht von unseren Partnern Ähnliches erhoffen?
Deutschland trägt so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiterhin eine besondere Verantwortung für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Friedens. Unsere kriegerischen Ambitionen reichten einst sehr weit, auch bis in die heutige Ukraine.
Welche Lehren, – jetzt kommt der Geschichtslehrer vielleicht doch ein wenig zum Tragen – kann oder soll man aus den Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte und der Gegenwart für die Zukunft ziehen? Warum treffen wir uns denn nun, um den Volkstrauertag zu begehen?
Uns mahnen die genannten Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart dazu, im Kleinen und Großen Konflikten friedlich zu begegnen und die Dinge auch aus der Brille des jeweils anderen zu sehen.
Das kontroverse Wort, der Dialog, sollte stets den Vorzug vor Ideologie, Gewalt, Waffen und Unterdrückung genießen. Die Idee der europäischen Einigung folgt diesem Gedanken – sie müssen wir weiter festigen und voranbringen.
Die außenpolitische Lage ist auch heute neben dem Krieg in der Ukraine in weiteren Regionen der Welt sehr angespannt, Kriege, Gewaltherrschaft, Rassismus und andere Gefahren für den Frieden sind auch heute keinesfalls von der Weltbühne verschwunden.
Mehr denn je ist unsere Gesellschaft, bei allen großen inneren und äußeren Herausforderungen wie z.B. dem Klimawandel und teilweise tiefen politischen Gräben – auf ihren Zusammenhalt angewiesen.
Das fängt beim direkten Nachbarn und dem örtlichen Vereinswesen an – und hört nicht einmal bei dem bürgerlichen Gemeinsinn für das gesamte Land und für Europa auf.
Unsere Verantwortung sehe ich unter anderem in dem Aufrechterhalten des gesellschaftlichen Erinnerns an all das Leid und all das Grauen der Vergangenheit und Gegenwart. Dafür sind wir heute hier!
Freilich – die Schule- das ist ein Stück auch meine Rolle – kann und muss hierzu einen wichtigen und hoffnungsvollen Beitrag leisten, es darf aber natürlich nicht der einzige sein:
Sehr gerne beteiligte sich die Gesamtschule Bad Driburg – wie alle weiterführenden Schulen im Stadtgebiet – im August an dem Projekt #stolenmemory.
Wir konnten anhand zweier Überseecontainer mit so genannten Effekten, Hinterlassenschaften der Opfer der NS-Gewaltherrschaft, anschaulich und greifbar erfahren, welche Wege diese Opfer der Schreckensherrschaft nahmen.
Seit Freitag können wir in der Ausstellung #lastseen Bilder von Deportationen in Form einer Wanderausstellung in der Innenstadt sehen.
Den Gedenktag zur Reichspogromnacht haben wir gemeinsam ebenfalls am Freitag begangen.
Ich lade alle Anwesenden herzlich ein, die Erinnerung gemeinsam mit uns voller Hoffnung auf eine friedliche Zukunft wach zu halten!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!